Über den Tellerrand

Ich muss mal raus, brauche einen Tapetenwechsel, will mal wieder über den Rand von Tellern schauen, die nicht auf meinem eigenen Tisch stehen.
Ein paar Tage lang im Alltag anderer Leute mitschwimmen, schauen, wie es der fernen Familie und Freunden geht. 
Für eine Woche tausche ich kurz entschlossen die Ostseeküste gegen die westfälische Provinz, zuckele mit der Regionalbahn durch die Münsterländer Bauerschaft, wandere durchs hügelige Lipperland. 
Meine alte Heimat hat sich verändert und ist doch immer noch ganz die Alte. Herausgeputztes Fachwerk, schmucke Dörfer und Heiligenhäuschen am Wegesrand, zwischen den Städtchen rasant wachsende Industriegebiete. 
Der Zug pfeift an jedem Bahnübergang, also gefühlt alle zwei Minuten.
Im Augenwinkel ein Schweinetransporter. Rosa Rücken und Ringelschwänzchen, auf zwei Etagen gestapelt hinter Gittern. In ein paar Tagen liegen sie als Schinkenspicker, blassrosa Mortadella oder Jagdwurst auf den Frühstückstellern der Republik. 
Entlang der Gleise vagabundierende Mini-Birken, die Stämmchen dünn wie Kinderarme. Schon früher haben mich diese störrischen Bäumchen beeindruckt, die an den unwirtlichsten Orten Wurzeln schlagen können und auf vorbei donnernde Schnellzüge genauso pfeifen wie auf Wind und Wetter.

Mit meinem kleinen Koffer stehe ich an Bahnsteigen, werde eingesammelt und wieder abgegeben, komm gut an und schön dass du da warst. 
Mir wird das Bett in ehemaligen Kinderzimmern gemacht, ich darf mir mein Lieblingsessen wünschen und bekomme immer zwei Handtücher hingelegt. Mal flauschig weich mit Blütenduft aus dem Trockner, mal luftgetrocknet ohne Weichspüler, aber dafür aus dem Garten.
Zu Besuch mit Übernachten heißt: Morgens im Bett liegen und mit gespitzten Ohren auf die Geräusche im Haus lauschen, die so ganz anders sind als Daheim:  Ist das Bad schon frei, oder rauscht da noch die Dusche? Und wer steht drunter?
Ob schon jemand Kaffee gekocht hat?
Zur Begrüßung heisst es immer: Du fühlst dich bitte wie zu Hause, bedien dich! Gefolgt von einer einladenden Geste quer durch die Küche. Jede davon eine eigene Welt: Mal farbenfrohes Bio-Obst & Gemüse aus der Abokiste, Haferdrink und Nachfüllspüli, mal Schinkenaufschnitt, Cola und Marken-Cerealien, einmal quer durch alle Geschmacksrichtungen. Herrlich, alles! 

Auch wenn ich zu Hause inzwischen ein paar Dinge vom Speiseplan geworfen habe, bin ich als Gast pflegeleicht. Ich esse unterwegs und auf Besuch so gut wie alles, besonders gerne die Dinge, an denen noch die Erinnerung an die elterliche Missbilligung aus Kindertagen klebt, als man versuchte, besonders konsequent gegen den Bösewicht Namens Zucker vorzugehen. Hände hoch, wer noch „Karius und Baktus“ kennt! 

Am Ende der Woche sitze ich, verwöhnt bis unter die Arme, wieder im Zug Richtung Norden. Koffer und Herz zum platzen gefüllt mit Mitbringseln und Eindrücken.
Nichts weiter als eine Woche Alltag liegt hinter mir, aber es war ja nicht mein eigener.
Ich war Zaungast in den kunterbunten Leben meiner Freunde und Familie, die bis auf wenige Ausnahmen keinen Urlaub hatten, sondern die sich extra für mich ein bisschen von ihrer kostbaren Zeit abgezwackt haben.
Und natürlich wohnt überall, wie man so schön sagt, unter jedem Dach ein Ach, auch unter meinem. Aber wir haben die Sorgen um die lieben alten Leutchen, Schulprobleme und die furchteinflößende Lage der Welt einfach unter der dicken Sahnehaube auf dem Eisbecher versteckt. Und unter den Spaghetti mit guter Butter.

Der Zug rollt in Hamburg ein, ich drücke mir wie jedesmal die Nase an der Scheibe platt und bestaune den Containerhafen, die Elbphi, die Fontäne auf der Alster. Ab Hamburg ist es dann nur noch eine Stunde bis nach Hause, wird Zeit jetzt, auch in Kiel steht jemand am Gleis und wartet.
Unter meinem Ärmel juckt es ein bisschen, denn mein Besuch ging mir diesmal buchstäblich unter die Haut:
Ich habe mir ein Tattoo stechen lassen, das mich nun täglich an diese kleine Reise erinnern wird.
Es ist meine persönliche Version von "Glaube, Liebe, Hoffnung". 
Liebe - davon gibt es jede Menge in meinem Leben. Aber wenn es um Glaube und Hoffnung geht - da brauche ich gelegentlich Nachhilfe, Vergewisserung, Unterstützung.
Die habe ich jetzt immer bei mir.

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