Die schwarze Linie

Kindlich gezeichnete stilisierte Bäume mit schwarzen Umrisslinien bilden einen kleinen Wald. Dieser ist mit verschiedenen Grün - und Blautönen koloriert.

„Lass mal die schwarzen Linien weg. Die sperren alles ein, was du malst. Schau, wir haben doch auch keine Umrisslinien um uns herum, und der Baum und der Vogel auch nicht.“

Ich weiß nicht, ob diese Sätze tatsächlich so zu mir gesagt wurden, als ich ein experimentierfreudiges Kind war, das nicht so viel Lust auf die unhandlichen Wachsmalblöcke hatte, sondern lieber mit Stiften gekritzelt hat. Sicherlich gab es auch gar kein explizites Verbot, schwarze Umrisslinien um Häuser, Bäume und Ponys zu ziehen - und doch ist diese Ermahnung bis heute in meiner Erinnerung verankert.
Natürlich stimmt es: Unsere Welt ist nicht umrandet. Wir sehen Silhouetten, Flächen, Formen, Licht und Schatten, Farben. Und wenn wir nicht gut oder gar nicht sehen können, nutzen wir u.a. unseren Tastsinn, der erhabene oder vertiefte Linien fühlbar macht.
Fast jede Kinderzeichnung beginnt mit gekritzelten Linien. Krakelige Versuche, das Gesehene auszudrücken und abzubilden.
Offenbar kehre ich immer wieder gerne in diese Phase zurück und bin den Umrisslinien treu geblieben. Bewusst eingesetzt, zum Beispiel in einer Landschaftsskizze, hegen sie das überwältigende Chaos ein. Sie können ordnen, das Auge lenken, Struktur und Formen erkennbar machen.
Alle meine Objekte beginnen mit ein paar einfachen Umrisslinien auf Papier. Hier und da wird etwas Aquarellfarbe hingetupft, die sich naturgemäß nicht einsperren lässt und fröhlich über die Ränder fließt.

Schnelle, einfache Skizze mit Segelbooten, die in einer Regatta fahren. Man sieht die schwarzen Umrisslinien und zerfließende Aquarellfarben: Gelb für die Boote, Blau für den Himmel.

Als ich im Winter nach langer Pause wieder mit dem Emaillieren begonnen habe, begegnete mir die schwarze Linie in ganz neuer Weise: Beim arbeiten mit Kupferflächen entstehen beim Brennen von ganz allein dunkle Umrandungen an den Werkstücken.
Dort, wo die Emaille nicht die Metallfläche bedeckt, oxydiert das Kupfer im Ofen und wird schwarz. Dies ist nicht immer ein erwünschter Effekt, doch für meine Arbeiten passt es perfekt:
Als ich meine ersten Motive nach dem Abkühlen in den Händen hielt, staunte ich nicht schlecht: Dort, wo ich mit der Laubsäge meinen gezeichneten Linien gefolgt war, waren sie nun wieder sichtbar.
Die kleinen Blätter mit den emaillierten Farbverläufen und den feinen dunklen Rändern sahen aus, als hätte ich meine Skizze samt Umrisslinien direkt vom Papier gepflückt.

An dieser Stelle winke ich der mahnenden Stimme aus meiner Kindheit freundlich zu und lasse sie davonfliegen, natürlich ohne schwarze Linien drum herum.

Kunstobjekt und Skizze auf einem Bild. Das Kunstobjekt heisst Rote Flora. Es ist ein Stück Treibholz, aus dem emaillierte Blätter und Blüten herauswachsen. Die Formen sind bunt emailliert, glänzen und haben dunkle Umrisslinien.
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Farbfunken aus der Vergangenheit